Landstände und Fürstenverträge süddeutscher Territorien im Spätmittelalter
* von Franz Quarthal
Als eine der Institutionen der Teilhabe an Herrschaft und einer möglichen Form der politischen Partizipation haben Landstände und Landtag in vielfältiger Weise das Interesse der historischen Forschung gefunden. Der Parlamentarismus, dessen Anfänge auf die Institutionen des englischen Feudalstaates zurückgehen, in dem sie ursprünglich der Beratung zwischen Krone und Magnaten in Rechtsfragen dienten, entwickelte sich seit dem späten Mittelalter in der westlichen Staatenwelt zum vorherrschenden, wenn auch stark differenzierten Regierungssystem. Die landständische Verfassung wurde ein gemeinsames Charakteristikum der Staatenwelt des europäischen Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit. Die Wurzeln ständischer Versammlungen jedoch sind vielfältig. Sie lagen im Hoftag, im fürstlichen Rat und in der Lehensversammlung der Fürsten. In besonderem Maße reizen die vielfältigen Formen der Genese und Ausprägung von Landständen in allen europäischen Landen zur Komparatistik, wie sie auch seit 1936 von einer eigenen Kommission des Internationalen Historikertages betrieben wird.
Unter den Vertretern des "Dualismusmodells" frühneuzeitlicher Staatlichkeit hat eine Gruppe von Verträgen, die sogenannten "Fürstenverträge", eine besondere Aufmerksamkeit gefunden. Damit sind jene Herrschaftsverträge gemeint, als deren bekannteste man gängigerweise die Magna Charta Libertatum von 1215, die Goldene Bulle von Ungarn aus dem Jahre 1222, die aragonischen Privilegien von 1283 und 1287, die Joyeuse Entrée von Brabant von 1356 und den Tübinger Vertrag von 1514 anführt1. Für Bayern könnte man den Vilshofener Vertrag und die Ottonische Handveste hinzufügen2. Die Zusammenfassung dieser unterschiedlichen Dokumente ist forschungsgeschichtlich noch nicht alt. Sie hängt zusammen mit der Vorstellung von der Stiftung der politischen Organisation der Gesellschaft durch einen Vertrag, wie sie nach der Ermordung der Hugenotten 1572 durch die französischen Calvinisten entwickelt wurde. In einem Vertrag zwischen Herrscher und Volk seien in freier Vereinbarung gleichberechtigter Partner die beiderseitigen Rechte und Pflichten festgelegt und der Herrscher damit gebunden worden3. Zu dieser aus der antiken Staatslehre stammenden Vertragsidee trat die religiöse Bundesidee des Alten Testaments, die dem Rechtsgedanken eine transzendente Fundierung gab. Zugleich bezogen die Hugenotten die rechtlichen Bindungen der ständischen Gesellschaft, Privilegien und Abschiede in ihre Vorstellung von der vertragsmäßigen Begründung der Gesellschaft ein und konstruierten damit eine vertragliche Grundlage des europäischen Ständestaates und ein Widerstandsrecht. Diese Vorstellungen der sogenannten Monarchomachen verbreiteten sich schnell; die Idee des Herrschaftsvertrags fand Eingang in die theoretische Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts. Der Herrschaftsvertrag wurde interpretiert als der Vorläufer der späteren Konstitution.
* Überarbeitete Fassung eines Vortrags im Institut für Bayerische Geschichte der Universität München am 19. Januar 1995.
Der im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts geprägte Begriff des Herrschaftsvertrags wurde von der ständegeschichtlichen Forschung auf oben genannte Vorbilder des hohen und späten Mittelalters übertragen. Werner Näf und später Fritz Hartung sahen in ihnen Zeugnisse der Gegenwirkung gegen die Straffung herrschaftlicher Bindungen und die Machtzunahme des Landesherrn. Durch die genannten Verträge sei die korporative Ordnung der Stände erwachsen. Sie seien Zeugnisse der Geburtsstunde des Ständestaates im Übergang vom Feudalismus zum frühmodernen Staat. In diesen Verträgen hätten sich, so Näf4, die Stände über veraltetes Lehensrecht hinaus an der Entwicklung des "modernen" Staates "progressiv und durchaus nicht oppositionell" beteiligt. Daraus entwickelt Näf, wie vor ihm Spangenberg, die Konzeption des dualistischen Ständestaates, für den die Ausbildung zweier Staatsgewalten grundlegend war5. Dabei war die monarchische älter, zu der die zweite, ständische Bildung aus feudaler Erbmasse ergänzend hinzutrat. Der ständische Staat hatte in dieser Konzeption eine elliptische Struktur mit zwei Machtpolen, die man aber seit dem 16. Jahrhundert zugunsten des monarchischen Elements verändert sah. Ob die Stände in dieser Entwicklung zur modernen Staatlichkeit nur eine retardierende, behindernde Funktion eingenommen haben, wie dies beispielsweise Carsten herausgearbeitet hat, war in der Ständeforschung lange Zeit umstritten6.
1 Oestreich, Herrschaftsvertrag, 247.
2 Vgl. die kritische Würdigung der bisher erschienenen Literatur in Spindler/Kraus, Handbuch 2, 128.
3 Oestreich, Herrschaftsvertrag, 246.
4 Näf, Herrschaftsverträge, 218.
Das Modell des Herrschaftvertrags und des dualistischen Ständestaates ist letztlich geprägt von einer parlamentaristischen Auffassung der Ständegeschichte, die institutionsbezogene Vorstellungen weit in die Vergangenheit zurückprojeziert.
Wie schwierig eine sachgerechte Interpretation solcher Verträge aber ist, möchte ich kurz am Beispiel eines immer wieder hierfür herangezogenen Vertrags, des Tübinger Vertrags von 1514, zeigen, den man gerne als die "Magna Charta" der Württemberger bezeichnete. Immer wieder wurde mit Stolz auf das Wort von William Pitt verwiesen, in Europa gäbe es nur zwei Staaten mit einer parlamentarischen Verfassung, nämlich England und Württemberg. Auf dem silbernen Ehrenbecher, den die Altrechtler Württembergs zur 300-Jahrfeier des Tübinger Vertrags dem greisen Landschaftsassessor Klüpfel überreichte, war in der Anschrift als wesentlich hervorgehoben: "Regierung durch Vertrag", "Der Bürger bewaffnet", "Die Gerichte unabhängig" und "Die Steuern durch Stände verwilligt und verwaltet"7. Aber dachte man nicht bereits damals, 1816, auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung um eine neue Verfassung und mitten im Kampf um das "gute alte Recht" eher an Rousseaus "Contract social", an die "levée en masse" und an die von Montesquieu propagierte Unabhängigkeit der richterlichen Gewalt? Wurden nicht schon damals moderne kon- stitutionelle Vorstellungen und Wünsche in einen Text hineinprojeziert, den keiner mehr richtig gelesen hatte? Bezeichnenderweise begingen Landtag und Landesregierung von Baden-Württemberg auf Anregung der Landesuniversität Tübingen den 450. Jahrestag der Errichtung des Tübinger Vertrags, eines "in der württembergischen Geschichte hochbedeutsamen Ereignisses" im Jahre 1964 in feierlicher Weise, auch wenn man bedauernd einräumte: "Wohl besteht eine unmittelbare Verbindung vom einst hochgerühmten und vielberufenen Grundgesetz des altständischen Wesens im Herzogtum Württemberg zur parlamentarischen Demokratie im Land Württemberg nicht". Aber man sah in ihm einen wichtigen Meilenstein "in der Entwicklung von Verfassungsrecht und Verfassungspolitik aus den spätmittelalterlichen zu den modernen und modernsten Verhältnissen", wobei "seine Idee und sein Anspruch im Ringen um das rechte Verhältnis von Regent und Regierten durch fast drei Jahrhunderte wechselvoller und wandlungsreicher Geschicke, die in ihrer Besonderheit und zeitweiligen Einmaligkeit weit über seine Grenzen hinaus, ja über Länder und Meere Beachtung fanden"8.
5 Ebda., 230.
6 Carsten, Ursachen.
7 Naujoks, Vertrag, 2.
Doch die Legendenbildung um den Tübinger Vertrag war schon älter. 1765, mitten in der Auseinandersetzung der Württembergischen Landschaft mit ihrem Herzog Carl Eugen, als die Landstände sich entschlossen hatten, ihren Landesherrn vor dem Reichshofrat in Wien wegen Verletzung der Landesfreiheiten zu verklagen, ließ die Landschaft in einem dickleibigen Folianten den Tübinger Vertrag mit anderen Privilegien und Freiheiten publizieren. Allein der Titel des Werkes zeigt, wie sehr man sich von der Denkweise des frühen 16. Jahrhunderts entfernt hatte. Er lautete: "Württembergische Landes-Grund-Verfassung, besonders in Rücksicht auf die Landstände und deren Verhältnis gegen die höchste Landes-Herrschaft"9. Ludwig Timotheus Spitteler, der Göttinger Historiker und spätere württembergische Minister, veröffentlichte 1786 einen "Historischen Commentar über das erste Grundgesetz der ganzen wirtembergischen Verfassung"10. Er, der Anhänger montesquieu'scher Ideen, war dankbar, in seinem württembergischen Vaterland ein Beispiel für echtes, dem westeuropäischen Konstitutionalismus entsprechendes Verfassungsleben zu finden. Aus dieser "Magna Charta libertatum des wirtembergischen Unterthans" schien sich ihm "das ganze Gewebe der National-Freiheit" des Landes zu entwickeln. Völlig im Gegensatz zur historischen Realität sah Spitteler bürgerliche und bäuerliche Deputierte "zu einem Korps" vereinigt und diese Einheit gegenüber dem Fürsten behauptet. Geht man jedoch wieder zurück zum historischen Text, so handelt es sich formal um keinen Vertrag, nicht einmal um einen Landtagsabschied, auch keine Urkunde des Herzogs, sondern um den Schiedsspruch einer kaiserlichen Kommission und einen Nebenabschied mit einer Reihe weiterer Schriftstücke, an denen nicht die Siegel des Herzogs und der Landschaft, sondern die der Kommissionsmitglieder hingen, der ein Jahr später auch durch Kaiser Maximilian bestätigt wurde11. Die kaiserliche Kommission, über die der gesamte Schriftwechsel zwischen Herzog und Landschaft lief, war hochrangig besetzt, hatte aber mit dem Land selbst nichts zu tun: Es waren Graf Georg II. von Montfort, Christoph Schenk von Limpurg, österreichischer Vogt in Nellenburg und Hauptmann des Schwäbischen Bundes, Dr. Johann Schad von Mittelbiberach sowie die Bischöfe von Straßburg und Konstanz und Vertreter des Kurfürsten von der Pfalz, des Bischofs von Würzburg und des Markgrafen von Baden.
8 Grube, Vertrag, 9.
9 Erschienen o.O. [Stuttgart] 1765.
10 Wächter, Werke Bd. 12., 89-141.
Der Landtag war von Herzog Ulrich einberufen worden, weil er dem Bauernaufstand des Armen Konrad nicht Herr werden konnte. Er hatte sogleich Kaiser Maximilian um Vermittlung gebeten, der mehrfach - erinnert sei an die Erhebung Württembergs zum Herzogtum 1495, an die Absetzung Herzog Eberhards II. 1498, an die Mündigkeitserklärung Herzog Ulrichs usw. - intensiv in die Geschichte Württembergs eingegriffen hatte. Eine Analyse der Positionen des Herzogs, der Landschaft und der kaiserlichen Vermittler zeigt, daß in den Vergleichsvorschlag Maximilians für das zukünftige Verhältnis von Landesherr und Landständen in Württemberg viel von Gewohnheiten und Gebräuchen auf habsburgischen Landtagen eingeflossen ist.
Bezeichnend für die politische Situation in Württemberg im Jahre 1514 war es, daß der Landtag nicht mit einer fürstlichen Proposition, sondern von den Landständen mit der Verlesung von 70 Gravamina über Hofhaltung und Regierungsweise Ulrichs eingeleitet wurde. Kritisiert wurden die renaissancehafte Pracht des Hofes, die Aufblähung der Hofämter, die Anstellung römischrechtlicher Juristen und die maßlose Schuldenwirtschaft des Herzogs.
11 Sydow, "söllich brocken ...".
Vereinbart wurde ein Programm zu Schuldentilgung gegen die Abschaffung des Landschadens, einer württembergischen Steuer, und ein Verbot der willkürlichen Steuer. Die Veräußerung von Teilen des Landes wurde an den Konsens der Landschaft geknüpft. Kriege durften nur mit "rat und wissen gemeiner landschaft" geführt werden. Für Verurteilungen waren Gerichtsverfahren nach württembergischem Recht verpflichtend. Der "Freie Zug", das Recht auf Auswanderung innerhalb des Herzogtums, wurde unter bestimmten Bedingungen gestattet. Kein Herzog sollte zukünftig an die Regierung kommen, der nicht den Tübinger Vertrag beschworen hatte.
Es ging in dem Vertrag also nicht um die Garantie irgendwelcher Menschenrechte, sondern er enthielt vieles, was im habsburgischen Herrschaftsbereich für Landstände zeitgenössisch üblich war. Angesichts des schwierigen Charakters Herzog Ulrichs bedeutet er trotzdem für Württemberg viel. Dies zeigt sich daran, daß der kaiserliche Rat Hans Schad sofort nach dem Ende der Verhandlungen Kaiser Maximilian nachdrücklich um eine Bestätigung bat, da er sonst um den Bestand des Schiedsspruchs fürchtete. Im Vergleich zum bisherigen Zustand im Herzogtum sprach er von einer "mercklich enderung" und nicht alltäglichen Regelungen ("dan söllich brocken komen nit all tag"). Dies zeigt, daß nicht im Sinne des modernen Konstitutionalismus, wohl aber im Sinne einer Regelung innerhalb des ständischen Territoriums mit dem Schiedsspruch Wichtiges geleistet worden war.
Die praktischen Wirkungen des Kommissionsspruchs waren gering. Die auf dem Landtag vertretene Ehrbarkeit beteiligte sich vereinbarungsgemäß an der blutigen Niederschlagung des Bauernaufstandes. Dafür forderte der Landtag alle Magistrate auf, die Errungenschaften des Tübinger Vertrags und insbesondere die Anerkennung der bäuerlichen Gravamina durch den Herzog bekannt zu machen.
Doch der Vertrag blieb zunächst für die politische Praxis des Herzogtums unwirksam. Der Herzog hielt sich nicht daran und widerrief 1519 völlig seine Zustimmung. Erst als der Schwäbische Bund das Herzogtum Württemberg erobert und 1520 gegen den Ersatz der Kriegskosten an Habsburg abgetreten hatte, setzte eine Änderung ein. Die österreichische Regierung Württembergs von 1520 bis 1534, die den Vertrag respektierte und voll auf die Zusammenarbeit mit der Landschaft setzte, erfüllte ihn mit Leben. In diesen Jahren konnten die Landstände - wenn auch nur in einer beschränkten Zusammensetzung von Prälaten und Bürgern - eine volle Wirksamkeit als Sprecher des Landes entfalten.
Nach der Rückeroberung Württembergs 1534 blieb Herzog Ulrich bei seiner Ablehnung des Tübinger Vertrags. Erst durch die Bestätigung des Vertrags 1551 durch seinen Sohn Herzog Christoph wurde er württembergisches Recht. Der Ausbau der württembergischen Landesfreiheiten zog sich jedoch noch wesentlich länger hin. Einzelne Schritte waren die Einbeziehung der Garantie der evangelischen Konfession in die Landesfreiheiten, die Garantie des Geheimen Rates als Regierungsform 1626, die völlige Verbürgerlichung der württembergischen Landstände nach dem Auszug des ritterschaftlichen Adels aus dem Land sowie die Einsetzung evangelischer Pfarrer als Äbte des ehemaligen Prälatenstandes. Damit erst gewann der Tübinger Vertrag die Sprengkraft, die er in der Auseinandersetzung zwischen Herzog Carl Eugen und seiner Landschaft in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts an den Tag legen sollte12. Damals zog der Kampf zwischen Herzog und Ständen die Aufmerksamkeit der gesamten politischen Öffentlichkeit des deutschen Reiches auf sich. Der 1770 schließlich geschlossene Erbvergleich zwischen den Ständen und dem Herzog galt als Niederlage des Herzogs und als ein Sieg des ständischen Prinzips, was in dieser Phase des europäischen Absolutismus größte Beachtung fand. Nunmehr wurde der "Tübinger Vertrag" Basis und Symbol des ständischen Widerstands, auf die sich die Altrechtler des frühen 19. Jahrhunderts, die für das Königreich Württemberg eine Wiederherstellung der alten ständischen Verfassung forderten, stützen konnten.
12 Haug-Moritz, Ständekonflikt.
An dem angeführten Beispiel ist wohl deutlich geworden, daß es sinnvoll ist, Verträge oder Abmachungen zwischen Landesherrn und Landständen epochenentsprechend und nicht in Hinblick auf eine mögliche konstitutionelle Entwicklung zu interpretieren; sie sind auch dann noch wichtig genug. Das Dualismusmodell, das von einem Nebeneinander zweier Staatselemente ausgeht, die unabhängig voneinander entstanden seien und die im modernen Staat zur Zusammenarbeit geführt wurden, wie es von Spangenberg, Näf, Hartung und anderen vertreten wurde13, mit dem Fürsten als Träger landesherrlicher Gewalt auf der einen und den Ständen, vor allem Adel und Städten, auf der anderen Seite, geht von einem Staatsbegriff der Neuzeit aus, der die Strukturen des späten Mittelalters nicht erfassen kann. Das genossenschaftliche Element in der Entwicklung der deutschen Geschichte, wie es der Rechtshistoriker Gierke zu Recht in seinem Lebenswerk "Das deutsche Genossenschaftsrecht" als tragende Säule herausgearbeitet hat, wird dabei in seiner Funktion unterbewertet14.
Sieht man aber auch die Territorien in einem Verdichtungsprozeß begriffen an, der im 13. Jahrhundert begann und zu Ende des 15. Jahrhunderts abgeschlossen ist, wird man der Wirklichkeit der spätmittelalterlichen Territorien gerechter. Der ursprüngliche Gedanke des Ständetums war nicht, wie es Hartung formuliert15, möglichst Freiheit vom Staat innerhalb des eigenen Bezirks zu erlangen, wozu die Gerichts-, Grund- und Gutsherrschaft über die eigenen Hintersassen gehört hätte, sondern in diesen Fixierungen konstituierte sich erst das spätmittelalterliche Territorium, das als festgegebene Größe ja nicht gegeben war. Die Herrschaftsverträge waren also nicht das Instrument, wo in vertragsmäßiger Festlegung der gegenseitigen Rechte und Pflichten der Dualismus des frühmodernen Staates seinen Ausdruck fand, sondern sie sind Indikatoren des Verdichtungsprozesses der Territorien. Das Dualismusmodell ist institutionen- und verfassungsorientiert, im wesentlichen herrschaftsbezogen und zur Erklärung der komplexeren, weitgehend genossenschaftlichen Strukturen des spätmittelalterlichen Territoriums nur bedingt geeignet.
13 Spangenberg , Lehenstaat; Näf, Herrschaftsverträge; Hartung, Herrschaftsverträge, 28 f.
14 Gierke, Genossenschaftsrecht.
15 Hartung, Herrschaftsverrträge, 43.
Auch das neue Bayern der Wittelsbacher des 13. Jahrhunderts war zunächst ein Personenverbandsstaat, in dem sich die Ministerialitäten und Lehenskurien der meisten bayerischen Dynastien des 12. Jahrhunderts im Laufe des 13. Jahrhunderts am herzoglichen Hof der Wittelsbacher vereinigten. Die so entstandene "Hofgenossenschaft" der wittelsbachischen Ministerialität, die zugleich auch Lehensgenossenschaft war, wurde erst im Territorium vereinigt. Dazu kam der Aufbau von Verwaltungsinstitutionen, die Verschriftlichung des Amtsverkehrs, der räumliche Zusammenschluß des Territoriums durch die Kumulierung von Gerichtsrechten, Vogtei, Grundherrlichkeit, Lehensherrschaft und Schirmrechten, Stadtherrschaft und Regalien16. Das Territorium zerfiel nicht in Ämter und wurde entsprechend aufgeteilt, sondern die Einzelteile wuchsen zusammen zu einem Land.
Die Neuartigkeit der Ämterverfassung mit dem Einsatz einer mobilen, kündbaren Beamtenschaft, einer Kanzlei und festen Ratsgremien verführte allerdings dazu, die Verfassungsentwicklung des Territorialstaates zu eng unter dem Aspekt der Ämter und der Institutionengeschichte zu sehen. Das informelle Beziehungsgeflecht, das sich beispielsweise aus der Bestellung zum Diener entwickelte, das durch eine Berufung zum fürstlichen Rat die Einbindung in eine territoriale Abhängigkeit ermöglichte, und die Bindungen, die ein auf einen Hof konzentrierter Lehensverband schuf, waren Elemente der Territorialverfassung, die neben den reinen Ämtern und Institutionen ein beachtliches Gewicht hatten. Nicht zu Unrecht hat man den Punkt, an dem es nicht mehr möglich war, Ministerialität und Vasallität in den Formen des mit dem Lehensrecht vermengten Hofrechts zu behandeln und sich eine Trennung der ursprünglich einheitlichen landesfürstlichen Hofministerialität in eine vom Hof geschiedene landsässige Dienstmannenschaft und in eine "Hofministerialität"17 im engeren Sinn vollzog, weitgehend an den Anfang der landständischen Entwicklung in Bayern gestellt. Selbstverständlich sind Vereinbarungen zwischen Landesfürsten und Ständen in finanziellen Notsituationen des Landes am häufigsten. Aber auch sie ermöglichten im Ergebnis den Ständen nicht den Rückzug in einen staatsfreien Eigenbezirk, sondern sie waren der Weg, auf dem die alleinige, ausschließliche und seit dem 13. Jahrhundert unzureichende Finanzierung der Herrschaftsaufgaben über das Kammergut überwunden und die Finanzkraft der Hintersasssen des Adels über die neue Steuer in das Territorium eingebracht werden konnte. Die Ottonische Handveste von 1311 drängte nicht den Landesherren zurück, sondern sie schuf die Strukturen, in denen das Territorium existieren konnte18.
16 Quarthal, Residenz, 62.
17 Fried, Entwicklungstendenzen, 373.
In Schwaben war 1268 mit der Hinrichtung Konradins das Herzogtum untergegangen und damit der Weg in die territoriale Zersplitterung des deutschen Südwestens geebnet19. Ein schwäbischer Herzogshof konnte nicht zum Kristallisationspunkt neuer Landstände werden, wie dies im wittelsbachischen Bayern möglich war. Während in Bayern es dem Adel in seinen Verträgen mit den Wittelsbachern während des 14. Jahrhunderts gelang, die Reste seiner ministerialischen Unfreiheit abzustreifen und in den "Freiheitsbriefen" weitgehende Herrschafts-, Bündnis- und Freiheitsprivilegien zu erhalten20, mußte in Schwaben erst wieder ein Forum gesucht werden, innerhalb dessen sich eine landständische Entwicklung vollziehen konnte. Von der Macht und dem Ansehen her kam dafür nur ein Geschlecht in Frage, nämlich das der Habsburger21. Es war jedoch ein Nachteil, daß die Habsburger nach der Übernahme der österreichischen Herzogtümer in ihren westlichen Besitzungen während der entscheidenden Phase der Ständebildung im 14. Jahrhundert nur kurzzeitig unter Leopold II. (1308-1326), Leopold III. (1369-1386) über einen Hof in Schwaben22 verfügten. In der feudalen Herrschaftsstruktur des Spätmittelalters war eine Ständebildung ohne Hof kaum realisierbar23. Folgerichtig haben sich sowohl Herzog Rudolf IV. wie auch Erzherzog Sigismund nachdrücklich bemüht, durch eine Wiederbelebung der schwäbischen Herzogswürde die Basis für eine Ausbildung von Landständen in die Hand zu bekommen24. Dementsprechend stehen in Schwaben nicht Hofordnungen oder Verträge mit dem Adel wie die Ottonische Hand- veste, oder Bündnisabsprachen zwischen Adel, Städten und dem Herzog (hier König Ludwig) 1315 oder Freiheitsprivilegien wie die Herzog Stephans II. von 1363 am Anfang der landständischen Entwicklung, sondern "informelle" Integrationsbemühungen der habsburgischen Herzöge und Erzherzöge.
18 Dokumente I/2, 501-506 (Nr. 404 f.); Spindler/Kraus, Handbuch Bd. 2, 136-139; zur Interpretation Bosl, Geschichte, 43.
19 Maurer, Herzog, 218-267; Hofacker, Herzogswürde.
20 Fried, Entwicklungstendenzen, 374.
21 Quarthal, Bewußtsein.
22 Quarthal, Residenz, 70-75.
23 Für Bayern vgl. Störmer, Residenzen.
24 Maurer, Kaiser Karl IV.; Quarthal, Residenz, 81-83; Hofacker, Herzogswürde, 73-114.
Das erste faßbare Zeugnis für das Vorgehen Habsburgs ist eine Steuerliste von 1388/89 "uff edellut, closter und phaffen in Ergau von notdurft und nucz des landes und unser herschaft von Oesterrich"25. Die Liste, drei Jahre nach der Schlacht von Sempach angelegt und möglicherweise als Grundlage für einen Steuereinzug zur Begleichung der Kriegskosten gedacht, entsprach in ihrer Form dem späteren landständischen "Landleutezettel". Es wurden rund 100 Adlige, 30 Klöster und zehn Ämter aufgeführt, die diese Steuer mittragen sollten. Erfaßt war nicht nur der Aargau im engeren Sinn, sondern der habsburgische Herrschaftsbezirk Aargau unter Einschluß des Schwarzwaldes, ja sogar eine Reihe breisgauischer und elsässischer Familien26. Im 15. Jahrhundert fertigten Erzherzog Albrecht und Erzherzog Sigismund neue Landleutezettel, die große Teile des hegauischen, schwäbischen und burgauischen Adels umfaßten, die aber mehr habsburgische Prätentionen darstellten, als daß sie wirklich einen Kreis von Landständen beschrieben hätten. Einen Erfolg hatten sie damit nicht. Bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts war die Schweiz aus dem habsburgischen Herrschaftsverband ausgeschieden und der innerschwäbische Adel hatte sich in der Gesellschaft mit dem St. Jörgenschild genossenschaftlich und ohne Herrschaftsbindung organisiert27.
Im Breisgau, Elsaß und Sundgau verfolgte das Haus Habsburg eine andere Taktik. In einer Zeit, in der es in Bayern schon zu festen Privilegienbestätigungen und zu Bündnissen von Adel und Städten mit den Herzögen kam, verbanden sich die Habsburger - über das Lehens- und Dienstverhältnis hinaus - in Rittergesellschaften mit dem Adel28. Beispiele dafür waren etwa die 1387 und 1389 bezeugte Ge- sellschaft "Zum Ritter", die in Form einer Trinkstubengesellschaft als "Stuba bibencium dominorum et sociorum" organisiert war29. Österreich wurde als Haupt dieser Gesellschaft angesehen: "f. d. h. zu Österreich seindt unser hopt". Ende des 15. Jahrhunderts waren die gesamten vorderösterreichischen Lande von vier Rittergesellschaften erfaßt30. Da eine direkte Herrschaftsausübung über den Adel nicht möglich war, mußte dieser lockerere Weg über Adelsgesellschaften gesucht werden. In einem Bündnisentwurf mit der Stadt Straßburg von 1380 beschrieb Herzog Leopold den regionalen Einzugsbereich dieser Adelsgesellschaften als seine Einflußsphäre31. Die Bedrohung der Oberrheinlande durch Burgund im ersten Drittel des 15. Jahrhunderts führte dazu, daß der in Ritterbünden organisierte Adel zusammen mit der Landschaft des Landgerichts im Oberelsaß ein Militärbündnis mit Österreich zur Abwehr Burgunds schließen mußte, dessen Organisationsformen für den Steuereinzug dann direkt zur Organisation der vorderösterreichischen Stände führte32. Die militärische Abwehrorganisation wurde damit zur Basis einer territorialen Bindung, für die herzogliche Herrschaftrechte nicht gegeben waren.
25 Maag, Urbar, 713 f.
26 Quarthal, Residenz, 84.
27 Mau, Rittergesellschaft; Obenaus, Recht.
28 Ruser, Geschichte; vgl. auch Kruse/Paravicini/Ranft, Ritterorden.
Man hat zurecht darauf hingewiesen, daß die Landstände die Teilungen Bayerns im 14. und 15. Jahrhundert nicht verhindern konnten, wobei Fried meiner Meinung nach mit gutem Grund die herrschaftsintensivierende Bedeutung der Teilungen hervorgehoben hat33. Andererseits hatte sich mit dem Begriff des "Hauses Bayern" bereits die Idee einer Einheit Bayerns entwickelt, die eine Wirkkraft über die einzelnen Hausteilungen hinaus entfalten konnte34. Die Stände folgten in ihren Teilungen den Landesteilungen und haben Wiedervereinigungen teilweise erst später wieder wettgemacht. Die Teilungen waren aber oft der Anlaß, so 1392 und 1402, daß den einzelnen Landschaften ihre Rechte und Freiheiten, ihre Bündnisfreiheit und ein Widerstandsrecht bestätigt wurden35.
29 Speck-Nagel, Landstände Bd. 1, 31.
30 Ebda., 33.
31 Ebda., 34.
32 Ebda., 52.
33 Fried, Entwicklungstendenzen, 377; vgl. für Württemberg Decker-Hauff, Landeseinheit.
34 Weinfurter, Einheit; vgl. auch Schwarzmaier, "Von der fürsten tailung".
35 Dokumente I/2, 565-567.
Herrschaftskrisen, Vormundschaftsregierungen, die Entmündigung und Ablösung unfähiger Herrscher machen das späte 15. und frühe 16. Jahrhundert zu einer Hochphase ständischen Einflusses.
So war die Grafschaft Württemberg 1442 geteilt worden36. Der seit 1459 selbständig regierende Graf Eberhard im Bart arbeitete zusammen mit den Landständen des Stuttgarter Landesteils zielstrebig darauf hin, beide Landesteile wieder zusammenzubringen, was ihm im Münsinger Vertrag von 1482 endlich gelang37. Dabei garantierte die Landschaft einschließlich der Ritterschaft, die sich wenige Jahre später der Landstandschaft entzog, die Einhaltung des Vertrags. Ohne deren Beteiligung, die sich eindrucksvoll in einer umfangreichen Besiegelung niederschlug, wäre das Vereinigungswerk nicht möglich gewesen38. Wenige Jahre später, 1495, wurde das Einigungswerk gekrönt durch die Erhebung Württembergs zum Herzogtum.
Bereits 1492 hatte Eberhard nochmals in Esslingen die Landschaft zu einem Vertragswerk gebracht, das die künftige Unteilbarkeit des Landes sichern sollte und der Landschaft dabei eine Garantenstellung für die Einheit des Landes einräumte. Die weitere Beteiligung der Landschaft am Regiment war in diesem Vertrag festgeschrieben39. Dies hatte gravierende Konsequenzen, denn als Eberhards Nachfolger gegen diesen Vertrag verstieß, setzte ihn die Landschaft 1498 in einem revolutionären Akt ab. König Maximilian, dessen Rolle in der Ständepolitik zu Ende des 15. und zu Anfang des 16. Jahrhunderts noch eine besondere Würdigung verdiente, legalisierte den Akt der Stände und entzog Eberhard II. "mit zeitigem Rat der Kurfürsten, Fürsten und anderer Räthe in merklicher Anzahl" aus königlicher Machtvollkommenheit40 das Herzogtum und setzte für den noch unmündigen Ulrich eine ständische Vormundschaftsregierung ein.
Für eine Herzogsabsetzung durch die Landstände gibt es sonst in der deutschen Geschichte kein Beispiel. Möglich war dies nur, weil König Maximilian quasi der Vertragspartner der Stände war, auch wenn er formal die Entscheidung kraft königlicher Machtvollkommenheit erließ. Relevant scheint hierbei die nunmehr sichtbar werdende transpersonale Auffassung von Herrschaft zu sein. Die Landstände wußten sich dem Fürstentum Württemberg als ihrem "vatterland" verpflichtet, zu dessen Schutz sie alle Leib und Gut hergeben wollten41 - von dem Fürsten als Landesherrn war nicht mehr die Rede. Die Stände fühlten sich als Träger des Fürstentums. Der Landtag wollte die Restitution des vom Fürsten verletzten Rechts, die Durchführung der von beiden Teilen beschworenen Verträge42. Die Heiligkeit der Verträge stand ihm über der Person des Fürsten. Aber indem er Altes zu erhalten oder wiederherzustellen glaubte, brachte der Landtag ein neues Element in die Territorialgeschichte. Das Land, die von den Landständen geschlossenen Verträge hatten mehr Gewicht als der Fürst, dessen Haus das Land erst zusammengebracht hatte. Möglich war dies alles aber nur unter der einmaligen Konstellation eines weitgehend auf eine Kooperation mit den Landständen eingestellten Königs.
36 Mertens, Württemberg.
37 Maurer, Landesteilung.
38 Gönner, "Münsinger Vertrag".
39 Ohr, Absetzung, 346.
40 Stälin, Geschichte, 18.
Immerhin ähnlich war der nur kurz zurückliegende Vorgang in der Grafschaft Tirol. Als Erzherzog Sigismund durch den Verkauf der Vorlande an Bayern die Interessen des Erzhauses nachhaltig zu schädigen drohte, schalteten sich Kaiser Friedrich III. und König Maximilian ein und zwangen im Verein mit den Tiroler Ständen die Räte Sigismunds zum Rücktritt. Vertraglich wurde ein von den Ständen kontrolliertes und besetztes Regiment beschlossen, das alle Herrschaftsgebiete einschließlich der Vorlande berücksichtigte. Wenig später, auf dem Innsbrucker Landtag von 1490, nötigten Maximilian und die Tiroler Stände Erzherzog Sigismund zum Rücktritt, und Maximilian wurde die Grafschaft Tirol übertragen. Garanten dieses Vorgangs waren auch dort die Tiroler Stände.
Auch in Oberbayern wurde zur gleichen Zeit in einer Krise manifest, wie stark die Stellung der Stände geworden war43. Als Herzog Albrecht IV. um 1488/89 ohne Zustimmung seiner Stände eine Kriegs- steuer ausschrieb, stieß er auf den Widerstand besonders der Straubinger Stände. Er ließ daraufhin durch seinen römischrechtlich geschulten Rat Johannes Neuhauser die Rechtskraft der Ottonischen Handveste von 1311 bestreiten, weil für sie "des roemischen Kaisers oder Koenigs Verwilligung oder Bestaettigung [...] nicht fuer gebracht"44 worden sei. Der betroffene Adel setzte sich im Löwleraufstand zur Wehr. Der Kampf dauerte bis 1493, Schwäbischer Bund, Kaiser und Reich wurden hineingezogen. Herzog Albrecht wurde 1492 von Kaiser Friedrich in die Reichsacht getan45, aus der ihn Maximilian ein Jahr später wieder löste, in der Urkunde aber darauf sah, daß dem beteiligten Adel kein Nachteil erwuchs. Im August 1493 schloß Herzog Albrecht mit dem landschaftlichen Ausschuß einen Vertrag, in dem er die ständischen Rechte für sein Territorium akzeptierte: Es hieß dort, es "soll auch die gemeine Landesfreyheit, wie sie innehaelt, in Wuerden bleiben"46, auch wenn einige Artikel darin, "die unlauter und deshalb disputierlich waeren" in "leutere und bessere Verstaendniß" gebracht werden sollten. Vertragliche Regelungen mit den Ständen waren auch in Bayern zu Ende des 15. Jahrhunderts nicht mehr rückgängig zu machen.
41 Grube, Landtag, 64.
42 Ebda., 66.
43 Dokumente I/2, 481.
Die Beteiligung der Stände an der Erneuerung des Landrechtsbuchs von 1501, die Ausarbeitung der Primogeniturordnung Herzog Albrechts von 1506 durch die Stände47, ihre Beteiligung an der Vormundschaftsregierung von 1508 und die Beteiligung an der Ausarbeitung der Landesfreiheitserklärung von 1508 zeigt, wie stark die Stellung der Landstände bis dahin geworden war. Zur Recht sah man in dieser Periode den Höhepunkt landständischer Macht in Bayern48. Die Neue Landesfreiheitserklärung von 1516 war Höhepunkt und Abschluß dieser Entwicklung.
Die im Vergleich zu Bayern wegen des Fehlens einer herzoglichen Zentralgewalt herrschaftlich viel differenziertere Struktur Schwabens hat nicht nur zu genossenschaftlichen Organisationsformen von Prä- laten, Adel und Städten geführt und unterschiedlich strukturierte Territorien entstehen lassen, sondern sie hat auch bäuerliche Untertanen zu Partnern von Herrschaftsverträgen werden lassen, die in vertraglicher Ausgestaltung ihre gegenseitigen Beziehungen definiert haben. Blickle interpretierte diese Verträge bäuerlicher Landschaften49 in Analogie zu den "Herrschaftsverträgen" adlig dominierter Territorien als "Agrarverfassungsverträge"50. Die rechtlichen Beziehungen zwischen Herrschaft und Territorialuntertanen konnten in den für Schwaben charakteristischen Kleinterritorien auch von bäuerlich geprägten Landschaften ausgestaltet werden.
44 Ebda., 578.
45 Ebda., 394.
46 Ebda., 580.
47 Weinfurter, Einheit, 225-242.
48 Bosl, Repräsentation, 124 ff.
Über die Zeitgrenze des Spätmittelalters hinaus geht die Entwicklung in dem Fürstentum Pfalz-Neuburg, die den bisherigen Überlegungen einen weiteren Aspekt anfügen. 1522 war Ottheinrich aus der Vormundschaft des Pfalzgrafen Friedrich entlassen worden und hatte in Pfalz-Neuburg selbständig die Regierung angetreten. Sein Mäzenatentum, seine großzügige Förderung aller künstlerischen Bestrebungen, seine Sammelleidenschaft ließen ihn die finanziellen Möglichkeiten seines kleinen Fürstentums weit überspannen, das er bis 1544 in den Staatsbankrott führte. In einem Vertrag mit den Landständen mußte er sich zum Regierungsverzicht gegen eine Apanage bereiterklären. Die Stände übernahmen die Verwaltung des Fürstentums und die Regelung des Schuldenwesens51.
Mit dieser Übernahme der Landesschulden und der Begründung eines eigenen Abzahlungswerkes ist eine neue Qualität des Ständewesens erreicht, das die Stände über alle Möglichkeiten der Herrschaftsverträge hinaus quasi zu einer zweiten Säule der Staatsverwaltung jenseits aller politischen Partizipation macht. Dieser Vorgang in Pfalz-Neuburg ist nicht isoliert zu sehen. Er war Bestandteil einer gigantischen Umschuldungsaktion, die vom Beginn des 16. Jahrhunderts bis zum Anfang des 17. Jahrhunderts nahezu in allen deutschen Territorien ablief. Der Vorgang ist fast überall gleich: Der Landesherr schlug den Landständen vor, zur Abwendung des Staatsbankrotts (wegen der Erschöpfung des landesfürstlichen Kredits) die gesamten landesherr- lichen Schulden zur Verzinsung und Tilgung zu übernehmen. Dafür sollten die Stände von weiteren Steuerforderungen in Zukunft verschont bleiben. Es war dies ein bedeutender Schub zur Institutionalisierung der Landstände in den deutschen Territorien. Aus den Privatschulden der Fürsten wurden durch dieses Vertragswerk Staatsschulden, für die eine feste Institution - die Landstände -, nicht mehr eine Privatperson, aufzukommen hatte. Da der Anteil der Abzahlungs- und Tilgungsquoten bei der Übernahme nach einem festen Schlüssel auf die einzelnen Stände umgelegt wurden, lösten Veräußerungen einzelner Landesteile nunmehr heftige Proteste der Landstände aus und haben zum Zusammenhalt der einzelnen Territorien über die landesherrliche Organisation hinaus erheblich beigetragen. Dort, wo die Landeshoheit umstritten war, wie im deutschen Südwesten, haben die Landstände nunmehr mit Nachdruck auf den Landesherren eingewirkt, seine Hoheit in Frage von Steuer und Reise durchzusetzen52.
49 Blickle, Landschaften.
50 Blickle, Grundherrschaft.
51 Quarthal, Armut, 159-168.
Kaum ein deutsches Territorium hätte ohne die strukturelle finanzielle Hilfe der Landstände die Aufgaben eines modernen Staates bewältigen und die Finanzkrise des 16. Jahrhunderts durchstehen können53. War die Verschuldung der Fürsten im 15. Jahrhundert noch als außergewöhnliche Notlösung "pro urgentissimis praesentibus necessitatibus" angesehen worden, so war sie im 16. Jahrhundert ein gängiges Finanzierungsmittel, um "unser und unsers fyrstenthumbs schaden damit zufür kommen und nutz zu schaffen"54. Bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts war in den meisten Territorien der Kredit der Landesfürsten erschöpft. In Württemberg verschlang der Schuldendienst 1565 54 % aller weltlichen Ausgaben und stand damit noch vor den Zahlungen für die Bedürfnisse des Hofes. Niederösterreich war mit 5 Millionen Gulden, Tirol mit 4 Millionen, Bayern ebenfalls mit etwa 4 Millionen Gulden verschuldet55.
Seit 1540 gingen die deutschen Fürsten systematisch daran, ihre Schulden durch Verträge auf ihre Stände zu übertragen, so die Zol- lern in der Markgrafschaft Brandenburg zwischen 1540 und 1572 knapp 8 Millionen, 1545 Pfalz-Neuberg 1 Million, 1557-1572 Bayern 3 Millionen, 1564 Württemberg 1,2 Millionen, 1573 Tirol und die Vorlande 2,4 Millionen. Insgesamt dürften in diesem Zeitraum über 100 Millionen Gulden umgeschuldet worden sein. In manchen Territorien war der Abschluß eines solchen Abzahlungsvertrags überhaupt erst der Grund, eine Landschaft einzuberufen wie in der Markgrafschaft Baden. In den geistlichen Territorien wie im Hochstift Bamberg und dem Hochstift Würzburg führte die Schuldenübertragung erst zu einem wirklichen Ausbau ständischer Institutionen.
52 Für ein Einzelterritorium vgl. Quarthal, Landstände, 120-123.
53 Seitz, Staats- und Klostergutsverkäufe, 61; Nebinger, Fürstentum, 16-18; Spindler/Kraus, Handbuch Bd. 2.
54 Bütterlin, Staatshaushalt, 125.
55 Quarthal, Armut, 162 f. Die dort aufgeführten Zahlenangaben wurden in der Zwischenzeit von mir ergänzt.
Die Landstände haben sich dadurch qualitativ verändert. Bis zum Ende des Spätmittelalters haben sie in ihren Auseinandersetzungen und Verträgen für eine korporative freiheitliche Ausgestaltung der Territorialverfassung Sorge getragen, während sie nunmehr zu einem institutionellen Mitträger der Territorien wurden und in der Hochphase des Absolutismus zu Quasistaatsbehörden gemacht werden konnten, die für den Staat unverzichtbar blieben, auch wenn die Stände als Mitbestimmungsgremium absolut geworden waren.
Ihr Beitrag zur Ausgestaltung der Verfassung der Territorialstaaten sollte aber nicht unter dem Aspekt des modernen Anstaltsstaates gesehen werden. Die Stände mit ihren oft den Fürsten abgetrotzten Verträgen retardieren nicht, sie behindern nicht eine staatliche Entwicklung, sondern sie leisten einen Beitrag zu der Umformung der offenen Verfassung der Landesherrschaft zu Ende der Stauferzeit zu einer neuen Verdichtung rechtlicher Zustände bis zum Ende des Spätmittelalters. Der Vertrag zwischen Herrscher und Ständen war ein Instrument auf diesem Weg. Als Vorläufer moderner Verfassungswirklichkeit ist er seinem Wesen nach kaum zu interpretieren, ohne daß dadurch seine Relevanz auf dem Weg zu einer modernen Staatlichkeit gemindert würde.
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